In der Diskussion um eine mögliche Reform das Wahlrechts kritisieren Medien gerne, daß es ein Armutszeugnis der Politik und der Parteien sei, sich nicht auf ein neues Wahlrecht zu einigen, das verhindere, daß sich der Bundestag weiter »aufblähe«. Verschiedene Anläufe, sich auf ein neues Wahlrecht zu einigen, sind bereits gescheitert und zwar vor allem an der CDU/CSU, die in einem neuen Wahlrecht weiterhin Überhangmandate ermöglichen wollen – diese am liebsten sogar ausgleichslos. Dies erklärt sich letztlich dadurch, daß bei den letzten Bundestagswahlen Überhangmandate in erster Linie den Unionsparteien zugute kamen: bei der Bundestagswahl 2017 erzielten sie gemeinsam 43 Überhangmandate.
Hierin liegt auch die Ursache für die Größe des Parlamentes, denn die Überhangmandate werden für die anderen Parteien ausgeglichen, so daß das Bundestagswahlergebnis nach Zweitstimmen wiederhergestellt und nicht etwa – wie im Wahlrecht vor 2017 – ausgleichslose Überhangmandate das Ergebnis verzerrten.
Verschiedene Modelle wurden inzwischen vorgeschlagen, darunter eine Begrenzung des Mandatsausgleichs (Lammert-Vorschlag) oder jüngst die Reduzierung von Wahlkreisen. Die Begrenzung des Mandatsausgleichs nach Lammert käme wiederum in der gegenwärtigen Situation den Unionsparteien zugute, würde das Ergebnis doch ihren Gunsten verschoben, während eine Reduzierung der Wahlkreise den Kontakt zwischen Parlamentarier und Bürger insbesondere in ländlichen Bereichen weiter erschweren würde.
Nun haben 24 Unionsabgeordnete in einem Brief an ihren Fraktionschef Brinkhaus vorgeschlagen, mit dem Grabenwahlrecht dafür zu sorgen, daß der Bundestag künftig nicht mehr als 598 Abgeordnete haben wird (Quelle: Spiegel Online). Das Grabenwahlrecht ist dabei keine neue Erfindung sondern wurde schon in der Vergangenheit von interessierter Seite wie dem durch Wirtschaftsunternehmen finanzierten Konvent für Deutschland in die Diskussion gebracht.
Im gegenwärtigen System wird mit zwei Stimmen gewählt, nämlich der Erststimme, mit der im Mehrheitswahlrecht ein Wahlkreiskandidat gewählt wird, und der Zweitstimme, mit der die Landesliste einer Partei in Verhältniswahl gewählt wird, und die über die Zusammensetzung des Bundestages entscheidet. Hierbei kommt der Erststimme keine eigene Gestaltungsmacht hinsichtlich der Zusammensetzung des Parlaments zu, denn während der Zuteilung der Mandate nach dem Wahlergebnis werden die über die Erststimmen gewonnenen Direktmandate mit den Zweitstimmen verrechnet. Erringt eine Partei mehr Direktmandate als ihr nach Zweitstimmen zustehen, erhalten die anderen Parteien Ausgleichsmandate.
Genau dieser Mechanismus wird im Grabenwahlrecht aufgehoben. Denn hier wird, bildlich gesprochen, ein Graben zwischen der Erst- und der Zweitstimme gezogen. Die Hälfte der Mandate wird nach diesem Wahlrecht entsprechend der Mehrheitswahl gewählt, die andere Hälfte nach der Verhältniswahl. Eine Verrechnung der Direktmandate mit den Listenmandaten findet nicht statt. Faktisch bedeutet dies, daß es zwei »Arten« von Abgeordneten gibt, nämlich jene 299 Abgeordnete, die per Mehrheitswahl über ein Direktmandat einziehen und jene 299 Abgeordnete, die über die Listenwahl in den Bundestag gelangen.
Um die Folgen des Vorschlages zu veranschaulichen, wurde das Ergebnis der Bundestagswahl 2017 nach dem Grabenwahlsystem ausgezählt. Dabei wird davon ausgegangen, daß die relative Mehrheitswahl angewendet wird, also derjenige, der beim ersten Wahlgang die meisten Stimmen auf sich vereinigt, das Direktmandat auch dann erringt, wenn er nicht mindestens 50% der Wähler/innenstimmen erhält. Nachdem die Union in Nordrhein-Westfalen bei den Kommunalwahlen die Stichwahl bei den Bürgermeistern, Oberbürgermeistern und Landräten abschaffen wollte (was der Landesverfassungsgerichtshof inzwischen revidiert hat), ist ohnehin anzunehmen, daß der Union ein solches System auch bei der Grabenwahl vorliegt.
|
Zwst. |
Erstst. |
Ges. |
Anteil
Sitze |
BT 2017 |
+/- |
CDU/
CSU |
105 |
231 |
336 |
56.2% |
246 |
90 |
SPD |
63 |
59 |
122 |
20.4% |
153 |
-31 |
Linke |
31 |
5 |
36 |
6.0% |
69 |
-33 |
GRÜ |
26 |
1 |
27 |
4.5% |
67 |
-40 |
FDP |
34 |
0 |
34 |
5.7% |
80 |
-46 |
AfD |
40 |
3 |
43 |
7.2% |
94 |
-51 |
Total |
299 |
299 |
598 |
100.0% |
709 |
-111 |
Die Spalte »Zweitstimmen« (Zwst.) zeigt die Anzahl der Mandate, die den Parteien nach der Verhältniswahl zustünden, während die Spalte »Erststimmen« (Erstst.) die Zahl der (2017) errungenen Direktmandate anzeigt. Die Spalte »Gesamt« (Ges.) zeigt die Gesamtzahl der Sitze an, die den Parteien entsprechend des Grabenwahlsystems bei der Bundestagswahl 2017 zugefallen wäre. »Anteil Sitze« zeigt, welcher Anteil der Sitze im Bundestag auf die einzelnen Parteien entfallen würde. »BT 2017« stellt dem die Anzahl der tatsächlichen errungenen Sitze nach geltendem Wahlrecht gegenüber, während die Spalte »+/-« die Gewinne und Verluste der Parteien durch das Grabenwahlsystem gegenüber dem gegenwärtig angewandten System zeigt.
Kurz gesagt: Die CDU/CSU würde 90 Mandate hinzugewinnen, während alle anderen Parteien zusammen 201 Mandate verlieren würden. Zu ihren Lasten ginge nicht nur die Reduktion der Gesamtzahl der Sitze des Bundestages von 709 auf 598, sondern auch die 90 Sitze, die die Unionsparteien durch dieses System hinzugewinnen würden.
Bei der Bundestagswahl 2017 erzielte die CDU/CSU bei den Erststimmen 37.2% und bei den Zweitstimmen 33.0% – trotzdem würden sie nach dem Grabenwahlrecht 56.2% der Mandate des Bundestages erhalten, was ein erhebliches Mißverhältnis wäre insbesondere in einem Land, dessen Wahlrecht traditionell die Verhältniswahl vorsieht.
Bei der hier verwendeten Berechnung des Wahlergebnisses wurde im Rahmen der Ermittlung der 299 Mandate nach Verhältniswahl die Unterverteilung entsprechend der Landesergebnisse genutzt. Die Alternative wäre, die Mandatsverteilung nach einer Formel direkt aus dem Bundesergebnis zu generieren, was jedoch einen nur geringen Unterschied machen dürfte, abhängig von der angewandten Formel. Weil aber der Regionalproporz in unserem föderalen Staat auch bisher im Wahlrecht eine wichtige Rolle gespielt hat, dürften auch die Unionsparteien daran festhalten wollen. Gleichwohl steigt hiermit die Zahl der Bundesländer, aus denen kleine Parteien keinen Abgeordneten entsenden können.
Zwar werden auch weiterhin kleine Parteien über die Listenwahl in den Bundestag einziehen können, daß sie jedoch Teil einer Koalition werden, dürfte nach der Systematik des von Union vorgeschlagenen Wahlrechts unwahrscheinlich werden. Dieses Wahlrecht bevorzugt insbesondere jene Parteien, die viele Direktmandate gewinnen und verhilft ihnen in der Regel zu einer absoluten Mehrheit. Diese Trennung der Mandate nach Direkt- und Listenmandaten sorgt dafür, daß das Mehrheitswahlrecht durchschlägt und die ausgleichenden Wirkungen der Verhältniswahl verdrängt.
Natürlich sind solche Projektionen wie jene oben mit Vorsicht zu genießen, denn ein anderes Wahlrecht wird auch andere taktische Überlegung von Parteien und Wähler/innen nach sich ziehen, die dann in das Ergebnis einfließen. Grundsätzliches dürfte sich jedoch nicht ändern. Das Element der Mehrheitswahl wird regelmäßig dazu führen, daß das Parlament nicht dem entspricht, was die Wähler/innen beim Urnengang bestimmt haben.
Wie schon erwähnt wird der Politik unter anderem durch die Medien gerne vorgehalten, daß sie ihre Akzeptanz verliere, wenn sie sich nicht auf ein neues Wahlrecht einige. Ob sie allerdings an Akzeptanz gewönne, wenn sie ein Wahlrecht einführte, das so offensichtlich einer Partei dient, ist fraglich. Alternativen hierzu, die nicht zu einer solchen Schlagseite führten, liegen vor. Eine reine Verhältniswahl, also die komplette Abschaffung der Direktwahl über die Erststimme, würde dazu führen, daß der Bundestag regelmäßig nicht mehr als 598 Abgeordnete hätte, ohne bestimmte Parteien dabei zu bevorzugen.
Noch kleiner wäre der Eingriff ins Wahlrecht, wenn bei der Erststimme die Präferenzwahl eingeführt würde, die Wähler/innen also die Möglichkeit bekämen, die Abgeordneten auf ihren Stimmzetteln in eine bestimmte Reihenfolge zu bringen. Fiele bei einer der Zählrunden der präferierte Abgeordnete weg, käme der nächstpräferierte zum Zuge. Dieses System würde dazu führen, daß Direktkandidaten nicht mehr mit Wahlergebnissen von 25, 28 oder 32 Prozent in den Bundestag einziehen könnten. Dies wiederum würde das gegenwärtige Problem beheben, daß eine Partei, die nur unwesentlich stärker ist als mehrere andere, eine große Zahl an Direktmandaten gewönne, die am Ende ausgeglichen werden müßten. Hierzu müßte vor allem die CDU/CSU über ihren Schatten springen und das Festhalten an denen für sie zu günstigen Überhangmandaten aufgeben.

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